Wohlbefinden durch gutes Hören (Teil 1)
Wie die richtige Hörgeräteversorgung das Wohlbefinden steigern kann – und was das für Sie als Hörakustiker in der Praxis bedeuten kann.
Hörverlust ist eine der am weitesten verbreiteten Sinneseinschränkungen, aber nach wie vor oft unterschätzt und zu selten versorgt. Wir bei Phonak sind überzeugt, dass es an der Zeit ist, die Diskussion über Hörverlust neu zu führen – weg von „ein Hörgerät brauchen, weil man schlecht hört“ hin zu dem, was gutes Hören und eine passende Hörgeräteversorgung für Betroffene bedeuten können: die Chance auf ein besseres Wohlbefinden.
Hören – ein vielfältiger Sinn
Ein möglicher Zusammenhang zwischen Hören und Wohlbefinden wird schon länger in der Fachwelt diskutiert – und auch erste Studienergebnisse deuten darauf hin. Deshalb haben wir von Phonak ein Experten-Panel aus Forschern und Praktikern einberufen, um die aktuelle Studien- lage auszuwerten und erste Empfehlungen für die Hörgeräteversorgung abzuleiten.
Ein Hörverlust bedeutet für Betroffene weitaus mehr als eine reine Einschränkung des Hörvermögens. Hören ist ein sozialer Sinn, er trägt zudem zur Orientierung und Sicherheit im Alltag bei und sorgt dafür, dass wir geistig fit bleiben. Wenn man sich diese Bedeutung guten Hörens in unterschiedlichen Bereichen unseres Alltags bewusst macht, wird schnell klar, dass der Hörsinn eine zentrale Rolle für unser Wohlbefinden spielen kann.
Die Kerndimensionen unseres Wohlbefindens
Wohlbefinden ist sehr individuell und vielschichtig. Jeder von uns wird etwas anderes darunter verstehen, und auch die persönliche Definition von Wohlbefinden wird sich im Laufe des Lebens immer wieder verändern. Für die einen bedeutet es unabhängig und aktiv bleiben zu können. Andere verstehen darunter erfüllende soziale Beziehungen, und andere wiederum berufliche Erfolge.
Die WHO hat bereits 1948 eine Definition von Wohlbefinden formuliert, die noch heute ihre Gültigkeit hat: als „Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechen“.
In den letzten Jahren haben Studien vermehrt Hinweise darauf geliefert, dass eine Hörrehabilitation zur Steigerung des Wohlbefindens in allen drei Kerndimensionen – sozial-emotional, kognitiv und physisch – beitragen kann.
Sozial-emotionales Wohlbefinden
Menschen sind soziale Wesen. Studien zeigen, dass gute soziale Bindungen zu besseren Gesundheitswerten und sogar einer längeren Lebenserwartung beitragen können. Hörverlust hingegen kann dazu führen, dass das soziale Netzwerk schrumpft. Betroffenen fallen Unterhaltungen in Gruppen oder lauten Umgebungen zunehmend schwer und sie beginnen, sich in Gesellschaft unsicher zu fühlen. Die häufige Folge: ein zunehmender Rückzug bis hin zur kompletten sozialen Isolation – nicht selten der Auslöser für oder begleitet von einer Depression. Auch wenn es bis heute wenige Studien gibt, die sich mit dem objektiven Nutzen von Hörgeräten für die soziale Teilhabe beschäftigen, bestätigen die meisten Hörgeräteträger die subjektiv wahrgenommenen Vorteile der Hörversorgung für ihr Sozialleben und die Kommunikation mit ihrem Umfeld.
Bereits länger erwiesen ist, wie wichtig es ist, die Kommunikationspartner bzw. das enge Umfeld von Betroffenen in die Hörrehabilitation mit einzubeziehen. So haben zahlreiche Erhebungen die Vorteile von Family-Centered Care, einem familienzentrierten Versorgungsansatz, gezeigt. Die Bereitschaft, sich mit einer Hörgeräteversorgung auseinanderzusetzen und die spätere Nutzung sowie die Zufriedenheit mit den Hörgeräten steigen beispielsweise mit der wahrgenommenen sozialen Unterstützung durch das direkte Umfeld. Ein Grund dafür kann die sogenannte Third-Party Disability, also die Beeinträchtigung Dritter durch den Hörverlust, sein – unter anderem durch eine erschwerte Kommunikation oder die Häufung von Missverständnissen. Die Versorgung mit Hörgeräten trägt so in vielen Fällen zur Verbesserung zwischenmenschlicher Beziehungen bei – und damit auch zum Aufrechterhalten des Soziallebens.
Kognitives Wohlbefinden
Kognitives Wohlbefinden und geistige Fitness im Alter rücken angesichts der demografischen Entwicklung zunehmend in den Fokus. Bis 2050 wird in vielen Teilen der Welt ein Drittel der Bevölkerung mehr als 60 Jahre alt sein, und jeder Dritte in dieser Altersgruppe wird einen Hörverlust entwickeln.
Gleichzeitig häufen sich die wissenschaftlichen Belege dafür, dass Menschen mit Hörverlust ein höheres Risiko haben, kognitive Probleme bis hin zu Demenz zu entwickeln. Das kann einerseits daran liegen, dass für das Ausgleichen des abnehmenden Hörvermögens kognitive Ressourcen benötigt werden, die dann für andere geistige Aufgaben nicht mehr zur Verfügung stehen. Ein weiterer Grund kann sein, dass das Gehirn durch das eingeschränkte Hören dauerhaft weniger Impulse erhält und dadurch nicht mehr so gefordert wird – was wiederum eine wichtige Voraussetzung für geistige Fitness im Alter ist.
Studien haben beispielsweise gezeigt, dass bessere Hörbarkeit durch eine Hörgeräteversorgung die Höranstrengung und Müdigkeitsgefühle deutlich verringern können. Dies wiederum setzt Ressourcen für andere geistige Aktivitäten frei – und führt dazu, dass Betroffene aktiver bleiben.
Physisches Wohlbefinden
Wir finden uns in der Welt zurecht, indem wir kontinuierlich Informationen aus unserer Umwelt über alle Sinne wahrnehmen und verarbeiten. Der Hörsinn trägt dabei unter anderem zu unserer räumlichen Orientierung bei, indem er Veränderungen in der akustischen Umgebung wahrnimmt und zur Verarbeitung an das Gehirn sendet.
Ein Hörverlust sorgt dafür, dass Schallquellen schwerer voneinander getrennt und lokalisiert werden können oder leise akustische Signale, wie beispielsweise die Schritte einer sich nähernden Person, nicht mehr wahrgenommen werden können. Das bedeutet, dass Menschen mit Hörverlust sich mehr anstrengen müssen, um akustische Veränderungen in ihrer Umgebung wahrzunehmen und die Orientierung zu behalten.
Außerdem können die Auswirkungen von Hörverlust auf die posturale Kontrolle, d.h. die Fähigkeit, das Gleichgewicht zu erlangen, aufrecht zu erhalten und wiederherzustellen, das Risiko zu stürzen deutlich erhöhen – gerade bei älteren Betroffenen ist dieser Zusammenhang bereits nachgewiesen. Erste Studien haben bereits die positive Auswirkung von Hörgeräten auf das Gleichgewicht und damit auf das Gefühl von Sicherheit und Selbstvertrauen gezeigt, welches nötig ist, um auch im Alter und mit Hörverlust einen aktiven und gesunden Lebensstil zu führen.
Weitere Forschung und Erkenntnisse für die Praxis
Nach ersten ermutigenden Forschungserkenntnissen laufen aktuell zahlreiche weitere Studien zur Rolle von gutem Hören für die genannten drei Kerndimensionen unseres Wohlbefindens. Darüber hinaus sollte es laut des Experten-Panels das Ziel sein, die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen zu stärken, um eine ganzheitliche Versorgung von Menschen mit Hörverlust voranzutreiben und das Wissen zu Komorbiditäten, d.h. dem Zusammenhang zwischen Hörverlust und weiteren gesundheitlichen Einschränkungen, in verschiedenen Bereichen der Gesundheitsversorgung weiter zu verbreiten. So könnte unter anderem eine enge Zusammenarbeit mit Hausärzten dazu beitragen, dass Hörverlust früher erkannt und versorgt werden kann.
Sie als Hörakustiker können schon heute das Bewusstsein für die Bedeutung guten Hörens für das Wohlbefinden bei Ihren Kunden stärken und die Themen Hörverlust und Hörgeräteversorgung in einen breiteren Kontext stellen. So können wir gemeinsam erreichen, dass Hörverlust nicht mehr nur als abnehmendes Hörvermögen wahrgenommen wird, was immer noch zu oft als „normaler Nebeneffekt des Älterwerdens“ gesehen und schlichtweg akzeptiert wird. Ein besseres Verständnis für die unterschiedlichen Wechselwirkungen von Hörverlust und die Vorteile einer frühzeitigen Hörrehabilitation für das Wohlbefinden birgt die einmalige Chance, die Versorgungsraten zu steigern und einen Beitrag dazu zu leisten, dass Menschen mit Hörverlust im Alter länger körperlich und mental gesund bleiben.
Über Ina Seel
Ina Seel (geb. 1987) ist im Geschäftsbereich Phonak bei der Sonova Deutschland GmbH in Fellbach-Oeffingen bei Stuttgart tätig. Sie verantwortet die Leitung der Audiologie und ist Expertin in der Kundenbetreuung in allen Belangen rund um Hörlösungen und deren Anpassung. Die ausgebildete Hörakustikmeisterin verfügt über ein umfassendes Wissen in diesem Bereich, das sie durch langjährige Verkaufs- und Fachgeschäftserfahrung stark erweitert hat. Umfangreiche Leitungsverantwortung für zahlreiche Fachgeschäfte und deren Mitarbeiter runden ihr Profil
ab. Die profunden Kenntnisse im Führungs-, Verkaufs- und Kundenmanagement sowie die langjährigen Erfahrungen beim Training von Mitarbeitern und im Bereich des Qualitäts- und Veränderungsmanagements sind ideal für die besonderen Anforderungen dieser Position und zeugen von der hohen Expertise.
Der Inhalt dieses Beitrags basiert auf „Phonak Well-Hearing is Well-BeingTM – Ein Phonak Statement“ von Charlotte Vercammen, PhD; Melanie Ferguson, PhD; Sophia E. Kramer, PhD; Markus Meis, PhD; Gurjit Singh, PhD; Barbra Timmer, PhD; Jean-Pierre Gagné, PhD; Huiwen Goy, PhD; Louise Hickson, PhD; Inga Holube, PhD; Stef Launer, PhD; Ulrike Lemke, PhD; Graham Naylor, PhD; Erin Picou, PhD; Sigrid Scherpiet, PhD; Barbara Weinstein, PhD; Angela Pelosi, M.AuD.A.
Das Statement und weitere Informationen zu Wohlbefinden durch Gutes Hören finden Sie unter: www.phonakpro.de/wohlbefinden