Durch gutes Hören die geistige Fitness erhalten (Teil 3)

Wie eine Hörsystemversorgung das kognitive Wohlbefinden steigern kann – und was das für Sie als Hörakustiker in der Praxis bedeutet.

Veröffentlicht am 14 Januar 2021

Durch gutes Hören die geistige Fitness erhalten (Teil 3)

Wir bei Phonak sind überzeugt, dass es an der Zeit für einen neuen Ansatz in der Kundenberatung ist – weg vom reinen Fokus darauf, dass jemand Hörsysteme benötigt, um wieder besser zu hören, hin zu einem ganzheitlichen Verständnis dafür, was gutes Hören und eine individuell zugeschnittene Hörversorgung für Betroffene bedeuten können: die Chance auf ein besseres Wohlbefinden.

Drei Kerndimensionen unseres Wohlbefindens
Unser Hörsinn spielt in vielen Bereichen unseres Alltags eine zentrale Rolle: Er ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass wir mit unserem Umfeld kommunizieren und interagieren können. Er trägt zu unserer Orientierung und damit dazu bei, dass wir uns im Alltag sicher bewegen. Und nicht zuletzt leistet er einen Beitrag, dass wir geistig fit bleiben. Ein unversorgter Hörverlust bedeutet also viel mehr als schlechter zu hören und zu verstehen – er kann sich auf unser gesamtes Wohlbefinden auswirken.

In der Fachwelt wird ein möglicher Zusammenhang zwischen Hören und Wohlbefinden schon länger diskutiert – und auch erste Studienergebnisse und Metaanalysen deuten darauf hin. Deshalb haben wir von Phonak unter anderem ein Experten-Panel aus Forschern und Praktikern einberufen, um die aktuelle Studienlage auszuwerten und erste Empfehlungen für die Hörgeräteversorgung abzuleiten.

Grundsätzlich ist Wohlbefinden eine sehr individuelle Wahrnehmung, und jeder von uns wird etwas anderes darunter verstehen. Die WHO hat für ein gemeinsames Verständnis drei zentrale Dimensionen von Wohlbefinden definiert: sozial-emotional, kognitiv und physisch. In dieser Ausgabe wollen wir uns genauer mit den kognitiven Aspekten von Wohlbefinden beschäftigen und die Bedeutung guten Hörens für diesen Bereich näher beleuchten.

Kognitives Wohlbefinden
Kognitives Wohlbefinden und geistige Fitness im Alter rücken angesichts der demografischen Entwicklung zunehmend in den Fokus. Bis 2050 wird sich die Zahl der Menschen über 65 Jahren verdoppeln, und mehr als jeder Dritte in dieser Altersgruppe wird einen Hörverlust entwickeln. Bei den über 80-Jährigen, deren Zahl sich im gleichen Zeitraum verdreifachen wird, werden sogar bis zu 80 Prozent von Hörverlust betroffen sein (Revision of World Population Prospects UN, 2019). Neben der Prävalenz von Hörverlust steigt auch das Risiko für eine Demenz deutlich mit zunehmendem Alter: Bei den über 65-Jährigen liegt es bereits bei 10 Prozent, in der Altersgruppe 85+ sogar bei 35 Prozent (Public Health England, 2016).

Risikofaktor Hörverlust
Gleichzeitig häufen sich die wissenschaftlichen Belege für einen Zusammenhang zwischen Hörverlust und einem erhöhten Risiko, kognitive Probleme bis hin zu einer Demenz zu entwickeln. So kam die Lancet Kommission kürzlich im Rahmen einer Analyse zu dem Ergebnis, dass insbesondere im mittleren Alter Hörverlust der wichtigste beeinflussbare Risikofaktor für Demenz sein kann. Ein unversorgter Hörverlust trägt laut Auswertung 8 Prozent zum gesamten Demenzrisiko bei, während weitere Faktoren wie Bluthochdruck mit 2 Prozent und ein gesteigerter Alkoholkonsum mit 1 Prozent deutlich dahinter liegen (The Lancet, 2020).

Eine Forschergruppe der John Hopkins University in Baltimore, USA, hat zudem errechnet, dass Menschen mit einem unversorgten leichten Hörverlust im Vergleich zu Normalhörenden ein doppelt so hohes Risiko haben, an Demenz zu erkranken. Bei einem mittelgradigen Hörverlust steigt das Risiko auf das Dreifache, und bei einem hochgradigen Hörverlust sogar auf das Fünffache (Lin et al., 2011).

Gehirn und Ohren als gleichberechtigte Partner

Warum das so ist? Gehirn und Ohren sind quasi gleichberechtige Partner, wenn es um das Verarbeiten von akustischen Signalen geht (Sünder & Borta 2019). Das Gehirn ist darauf angewiesen, dass die Ohren die Signale weitergeben, damit es diese verarbeiten und in Information umwandeln kann. Je besser die Signalqualität, umso leichter fällt es dem Gehirn, den Input zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen. Umso stärker also der Hörverlust, umso größer die Höranstrengung – und diese bedeutet oft den Beginn einer Negativspirale: Die Betroffenen ziehen sich sozial immer weiter zurück, da sie die Kommunikation mit ihrem Umfeld zunehmend als anstrengend empfinden. Und damit nimmt wiederum entsprechend der akustische Input ab. Die Folge: Das Gehirn reduziert seine Aktivität und baut über die Zeit seine Leistungsfähigkeit wie ein Muskel ab, der nicht trainiert wird.

Chancen einer Hörgeräteversorgung
Neben den Belegen für einen starken Zusammenhang zwischen altersbedingtem Hörverlust und Demenz nehmen auch die Belege für den positiven Einfluss einer Hörversorgung auf die kognitive Leistung zu. Im Rahmen einer aktuellen Studie begleitete ein wissenschaftliches Team um Julia Sarant, Leiterin der audiologischen Fakultät der Universität von Melbourne, Australien, 99 Betroffene mit Hörverlust aus der Altersgruppe 60+ über einen Zeitraum von insgesamt 18 Monaten vor und nach der Hörgeräteanpassung (Sarant, Busby, Maruff, Schembri, Lemke & Launer, 2020). Ihre Ergebnisse im Überblick:

• Menschen mit stärkerem Hörverlust, höherem Alter und niedrigeren Bildungsgrad haben häufiger kognitive Probleme als andere Gleichaltrige.
• Bei einigen Studienteilnehmern führte eine Hörversorgung nicht nur zu einer Stabilisierung der kognitiven Leistung, sondern im Lauf des Studienzeitraums sogar zu einer Verbesserung.
• Umso häufiger die Hörgeräte getragen wurden, umso größer fiel die kognitive Leistungssteigerung aus.

Weitere Studien haben zudem den kurzfristigen Nutzen von Hörgeräten belegt. So genannte Zweifach-Aufgaben-Tests haben gezeigt, dass das Tragen eines Hörgeräts zu einer besseren Performance bei einer zeitgleichen Zweitaufgabe, wie beispielsweise das Drücken eines Knopfs auf ein optisches Signal hin, führte (Ricketts & Hornsby, 2013). Die verbesserte Fähigkeit, sich auf eine weitere Aufgabe neben der Hauptaufgabe Hören zu konzentrieren, spricht dafür, dass die Höranstrengung durch die Hörgeräte abnimmt und so kognitive Kapazitäten für weitere Aufgaben freigesetzt werden.

Darüber hinaus legen Studien nahe, dass langfristig die verringerte Höranstrengung durch das Tragen von Hörgeräten dem Gefühl von dauerhafter Erschöpfung im Alltag entgegenwirkt (Holman, Drummond, Hughes & Naylor, 2019). Dies kann sich positiv auf die Unternehmungslust und das Sozialleben auswirken, was wiederum für mehr Input für das Gehirn sorgt und damit zum Erhalt der geistigen Fitness beiträgt.

Kognition als Thema in der Hörberatung
Unsere Erfahrung und der Austausch mit Ihnen hat gezeigt, dass viele Hörakustiker in ihrem Beratungsalltag schon einmal Berührungspunkte mit dem Thema kognitive Probleme hatten bzw. schon einmal von ihren Kunden darauf angesprochen wurden. Kunden selbst aktiv anzusprechen, wenn Sie im Lauf der Beratung Anzeichen für einen kognitiven Abbau wahrnehmen oder sich inhaltlich verbindlich auf Kundenfragen zu dem Thema zu äußern, ist jedoch keine Selbstverständlichkeit. Denn während es auf der einen Seite bereits einen steigenden Bedarf an Beratung und Früherkennung durch Hörakustiker zu dem Thema gibt, ist das Thema Kognition noch nicht fest in der Aus- und Fortbildung in unserer Branche verankert. Und genau dazu wollen wir in Zusammenarbeit mit unserem Experten-Panel beitragen.

Erkenntnisse für die Praxis
Angesichts der bisherigen Forschungsergebnisse und laufenden Studien zu den kognitiven Auswirkungen von Hörverlust und den Chancen einer Hörgeräteversorgung in diesem Zusammenhang zeigt sich: Hörakustiker könnten zukünftig eine zunehmende Rolle in der Früherkennung und für den Erhalt der geistigen Fitness Ihrer Kunden spielen– insbesondere, wenn man sich das steigende Risiko in der Altersgruppe 65+ vor Augen führt, die zu unseren Hauptkunden zählen. Darüber hinaus verbringen wir oft regelmäßiger und mehr Zeit in der Beratung mit unseren Kunden als es Hausärzte im Rahmen von Arztterminen tun.
Das bedeutet zwar nicht, dass Hörakustiker für die Diagnose einer Demenz zuständig sind, aber Sie können Ihre Kunden bei gewissen Anzeichen für das Thema sensibilisieren und mit der passenden Versorgung dazu beitragen, dass die geistige Leistungsfähigkeit möglichst erhalten oder sogar verbessert werden kann.

Weitere Informationen zu Wohlbefinden durch Gutes Hören finden Sie unter: www.phonakpro.de/wohlbefinden

Über die Autorin:

Ina Seel (geb. 1987) ist im Geschäftsbereich Phonak bei der Sonova Deutschland GmbH in Fellbach-Oeffingen bei Stuttgart tätig. Sie verantwortet die Leitung der Audiologie und ist Expertin in der Kundenbetreuung in allen Belangen rund um Hörlösungen und deren Anpassung.

Die ausgebildete Hörakustikmeisterin verfügt über ein umfassendes Wissen in diesem Bereich, das sie durch langjährige Verkaufs- und Fachgeschäftserfahrung stark erweitert hat. Umfangreiche Leitungsverantwortung für zahlreiche Fachgeschäfte und deren Mitarbeiter runden ihr Profil ab. Die profunden Kenntnisse im Führungs-, Verkaufs- und Kundenmanagement sowie die langjährigen Erfahrungen beim Training von Mitarbeitern und im Bereich des Qualitäts- und Veränderungsmanagements sind ideal für die besonderen Anforderungen dieser Position und zeugen von der hohen Expertise.

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