FDH-Grundsatztagung: Neue Impulse für freie Hörakustiker
Wie behauptet sich eine traditionsreiche Branche in Zeiten tiefgreifender Veränderungen?

Die diesjährige Grundsatztagung des Fachverbands Deutscher Hörakustiker (FDH), die vom 15. bis zum 17. Mai in Leipzig stattfand, lieferte dazu spannende Antworten und überraschende Perspektiven.
Das offizielle Programm der Veranstaltung begann mit dem Vortrag des Unternehmers Tim Schädlich, der in seinem Berufsleben erst viel falsch und dann viel richtig gemacht hat. Und seinen heutigen Erfolg vor allem der Tatsache verdankt, dass er vieles anders als seine Kolleg*innen machte.
Schädlichs Karriere begann mit dem Wunsch nach einem teuren Auto. Um sich dieses leisten zu können, machte sich der Friseurmeister aus Eltville selbständig und eröffnete seinen ersten Salon – gemütlich eingerichtet, mit einer Playstation, anderen Spielkonsolen und fairen Preisen für den Haarschnitt. Sein Angebot fand viel Anklang bei Kindern und Jugendlichen, aber die zahlungskräftige Kundschaft blieb aus. Denn: Sein Konzept sprach nicht die Zielgruppe an, die er erreichen wollte.
Die wirtschaftliche Kehrtwende kam mit einem radikalen Rebranding: Seinen Friseursalon nannte Tim Schädlich nicht mehr nach seinem Familiennamen, sondern – in Anlehnung an den Ibiza-Hotspot Café del Mar – „Café del Haar“. Statt Wohnzimmerflair und Playstation bot er seiner Kundschaft durchdachtes Interior Design und ein klares Serviceprofil – und erreichte damit ein Publikum, das bereit war, für das Erlebnis rund um den Haarschnitt deutlich mehr Geld zu zahlen. Mittlerweile betreibt Schädlich einen riesigen Beautysalon mit „Dienstleistungen für Haut, Haar und Seele auf allerhöchstem Niveau“, inklusive einem wahren Luxuspaket: Für 10.000 Euro bietet er First-Class-Flüge in die weite Welt, inklusive exklusiven Shoppingerlebnisse in New York und Paris, Barbecue-Treffen mit Ralf Möller und einem Haarschnitt am Strand. Gewinn erzielt er damit kaum, aber diese schillernden „Leuchtturm-Erlebnisse“ ziehen Kunden und Fachkräfte gleichermaßen an, so Schädlich, der mittlerweile rund 30 Mitarbeitende beschäftigt.
Für die anwesenden Hörakustiker*innen lautete Schädlichs Botschaft: Wer sich in einer Branche behaupten will, die mit Nachwuchsmangel, zunehmender Komplexität und veränderten Kundenerwartungen kämpft, muss heutzutage weitaus mehr als nur reine Dienstleistung erbringen. Er muss auch für Erlebnisse sorgen, die Vertrauen, Emotionen und positive Impulse erzeugen. Denn wer heutzutage kein einzigartiges Konzept hat oder andere kopiert, droht in der Menge unterzugehen.
Ganzheitlich, menschlich, vernetzt
Der zweite Keynote-Speaker beschäftigte sich mit einem der Kernthemen der diesjährigen FDH-Tagung, das „viele Hörakustiker nervt oder zumindest triggert“, wie FDH-Präsident Andreas Bögl sagte. Mit Spannung wurde deswegen auch der Vortrag von Prof. Dr. Gregor Hohenberg erwartet, der über die Chancen und Gefahren der Telemedizin referierte.
Als Informatiker und Leiter der Stabsstelle für Digitalisierung und Wissensmanagement an der Hochschule Hamm-Lippstadt erforscht Hohenberg unter anderem neue Therapieansätze für Demenzkranke. So erinnerte er zunächst an Studien, die zeigen: Menschen mit Demenz leiden häufig auch an Hörverlust. Seit einiger Zeit eröffne künstliche Intelligenz (KI) nun neue Möglichkeiten, um die kognitive Stimulationstherapie zu verbessern und personalisierte Therapiepläne zu entwickeln. Die neuen Technologien seien so mächtig geworden, dass KI inzwischen nicht mehr nur als Software, sondern als Kollege wahrgenommen werde. Aber: Die KI kann keine guten Fragen stellen, mahnte Hohenberg. Sprich: Wir brauchen Menschen und Fachkräfte, die die richtigen Fragen stellen und Anwendungsszenarien entwickeln, betonte er.
Seiner Ansicht nach sind Hörakustiker für diese neuartigen Herausforderungen „perfekt aufgestellt“. „Ihre Stärke ist die soziale Teilhabe, Sie verkaufen Lebensqualität. Sie können einen wesentlichen Beitrag dazu beitragen, neue Versorgungsformen zu entwickeln“ sagte der Experte auch im Hinblick auf die Tatsache, dass 75 Prozent der pflegebedürftigen Personen zu Hause versorgt werden. Konkret empfahl der Experte, Arbeitsgruppen „mit Kollegen auf Augenhöhe und Überzeugungstätern zu bilden“.
„Wenn Sie in einer Gruppe die richtigen Fragen stellen und Probleme gemeinsam betrachten, werden Sie die besten Lösungen entwickeln“, prophezeite Hohenberg, bevor er an die FDH-Mitglieder appellierte: „Bauen Sie Netzwerke auch zu anderen Branchenexperten auf, denken Sie vermehrt in großen Versorgungssystemen und handeln Sie als ganzheitlicher Gesundheitsdienstleister.“ Andere Länder, zum Beispiel Dänemark, seien auf diesem Gebiet und insbesondere hinsichtlich der Telemedizin schon wesentlich weiter als Deutschland.
FDH-Präsident Andreas Bögl wiederum nutzte Hohenbergs Perspektiven und Visionen zum direkten Aufruf an alle FDH-Mitglieder, eine neue Arbeitsgruppe ins Leben zu rufen, um sich über das Zukunfts- beziehungswiese Gegenwartsthema der künstlichen Intelligenz regelmäßig und offen auszutauschen – idealerweise auch mit Experten aus anderen Branchen.
IT-Sicherheit und KI-gesteuerte Kundenbindung
Auf die zwei Fachvorträge folgten dann zwei weitere Vorträge mit konkreten Beispielen aus der Praxis. Den Anfang machte Emanuel Lonz, Gründer von ComputerSysteme Lonz. Er berichtete, dass über 80 Prozent seiner Neukunden Schadsoftware auf ihrem Computer haben. „Mit der Digitalisierung wachsen auch die Risiken. Hackerangriffe sind längst nicht mehr nur ein Problem großer Konzerne. Wir müssen heute kein auserwähltes Ziel mehr sein, um Opfer eines Hackerangriffs zu werden“, betonte Lonz.
Kleine Betriebe wie unabhängige Hörakustikfachgeschäfte seien fast immer Zufallsopfer durch Sicherheitslücken, menschliche Unachtsamkeit oder veraltete Informatik. 64 % der Hackerangriffe, die nicht selten zu einer geschäftlichen und privaten Insolvenz führen, werden demnach intern ausgelöst. „Es passiert meistens dann, wenn man überhaupt nicht damit rechnet“, resümierte Emanuel Lonz. Der Appell des Computerfachmanns lautete dementsprechend: Investieren Sie in IT-Sicherheit und regelmäßige Mitarbeiterschulungen. Der beste Freund eines jeden Hackers sei der Firmenchef, der die IT-Sicherheit seines Unternehmens vernachlässigt.
In dem zweiten Praxis-Vortrag zeigte Christian Strauch, Geschäftsführer und Mitgründer von der Firma hellomateo auf, wie (einfach) sich Kundenbindung per KI-Assistent automatisieren lässt. Strauch erklärte vor allem, wie sich mit der Business-API von hellomateo (potenzielle) Kundinnen und Kunden auf dem derzeit meist genutzten Messenger-Dienst WhatsApp gezielt erreichen lassen und welches riesige Potenzial in der automatisierten Kundenansprache steckt – angefangen vom ersten Kontakt bis zum Termin-Reminder für Beratungstermine und die Wiederversorgung.
Podiumsdiskussion „Onlineanpassung neu denken“
Alle Redner des Tages, außer Tim Schädlich, fanden sich abschließend zu einer Podiumsdiskussion ein, zu der sich noch zusätzlich Daniel Paul von der Firma egger otoplastik und Marcel Schulze von GN Hearing gesellten. Mit Moderator Andreas Bögl diskutierten sie unter anderem die Voraussetzungen für eine sichere Onlineversorgung.
Die Diskussionsrunde bestätigte: KI ist längst auch in den Hörakustikfachgeschäften angekommen und bietet die Chance, Abläufe zu automatisieren und zu beschleunigen. Onlineanpassung ist kein Feindbild mehr, liegen die Vorteile wie Zeitersparnis, Effizienz und Entlastung doch auf der Hand. Allerdings bleibt sie weiterhin eine Herausforderung – insbesondere in Bezug auf Datenschutz und die Akzeptanz bei älteren Kundengruppen. Wenn sie richtig eingesetzt wird, Standardmodelle angepasst sind, Datenschutz gesichert ist und transparent kommuniziert wird, wird sie jedoch zu einer großen Chance. Aber: Der menschliche Hörakustiker bleibt unersetzlich – als Therapeut, als Begleiter und als empathischer Kommunikator.
Doch auch eine weitere Tatsache sollten freie Hörakustiker*innen immer im Blick haben: Menschen suchen Erlebnisse. Sowohl Kunden als auch Mitarbeitende wollen gesehen, verstanden und wertgeschätzt werden. Wer es als Unternehmer und Arbeitgeber schafft, technologische Möglichkeiten mit menschlicher Nähe zu verbinden, wird nicht nur bestehen, sondern kann auch Vorreiter einer neuen Qualität von Versorgung sein.
Von Leipzig weiter nach Kopenhagen
Neben Fachvorträgen und kollegialem Austausch bot die Grundsatztagung natürlich auch dieses Mal wieder ein buntes Rahmenprogramm. So konnten die FDH-Mitglieder zahlreiche Sehenswürdigkeiten der Heimatstadt von Hörakustikmeisterin, Geschäftsführerin und EUHA-Präsidentin Beate Gromke entdecken, die wie im letzten Jahr erneut zu den Teilnehmenden der Grundsatztagung gehörte. Zu den Programmhöhepunkten gehörte aber auch eine abendliche Fasskeller-Zeremonie im berühmten Auerbachs Keller, die von Leipzigs Mythen und Legenden erzählte.
Auf der veranstaltungsabschließenden Mitgliederversammlung am Samstag wurde schließlich auch offiziell beschlossen, wo sich der FDH im nächsten Jahr zu seiner Grundsatztagung trifft: in Kopenhagen, der Mutterstadt der Hörgeräteindustrie.