Welche Aufgaben nehmen Hörakustiker in der Zukunft ein?

Drei Sonova-Expertinnen geben uns exklusive Einblicke in die neuesten Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen gutem Hören und gesundem Altern sowie über die Auswirkungen auf die klinische Praxis. 

Maren Stropahl, Sigrid Scherpiet und Lucie Reddig, veröffentlicht am 19. Dezember 2024

Welche Aufgaben nehmen Hörakustiker in der Zukunft ein?

Ein gutes Gehör ist für gesundes Altern unerlässlich. Während viele Menschen die Hörgesundheit in erster Linie mit dem Verstehen von Sprache und der Teilnahme an Unterhaltungen in Verbindung bringen, geht ihr Einfluss weit über die Kommunikation hinaus. Die Hörgesundheit hat erhebliche Auswirkungen auf das allgemeine Wohlbefinden und die Lebensqualität, weshalb sich immer mehr Expert*innen für einen ganzheitlichen Ansatz in der Hörversorgung einsetzen.

Unversorgte Schwerhörigkeit und mögliche negative Auswirkungen auf die Gesundheit

Schwerhörigkeit ist eine der häufigsten altersbedingten Beeinträchtigungen und die Häufigkeit wird in den kommenden Jahrzehnten voraussichtlich weiter zunehmen. Dieser Anstieg ist unter anderem auf die wachsende Bevölkerung und vor allem den steigenden Anteil älterer Personen zurückzuführen – ein Trend, der häufig als „alternde Gesellschaft“ bezeichnet wird. Derzeit sind weltweit 65 Prozent der Erwachsenen über 60 Jahren von Hörverlust betroffen.

Schwerhörigkeit wird oft noch immer als „harmloser“ Teil des Alterungsprozesses angesehen, obwohl heutzutage bekannt ist, welche Auswirkungen ein unversorgter Hörverlust auf die Lebensqualität und andere gesundheitliche Aspekte haben kann. Die Zahl der Menschen, die nach einer Lösung suchen, ist im Vergleich zur tatsächlichen Zahl der Betroffenen nach wie vor relativ gering. Heute vergehen im Durchschnitt immer noch vier bis sieben Jahre vom Zeitpunkt der Feststellung einer Hörminderung bis zur tatsächlichen Versorgung mit Hörlösungen.

Eine Schwerhörigkeit entwickelt sich in der Regel schleichend über viele Jahre hinweg. Viele Betroffene sind sich des Hörverlusts allerdings nicht bewusst und oft sind die Menschen in ihrem sozialen Umfeld die ersten, die ihn erkennen. Aufgrund dieser oftmals langsamen Veränderungen können Hörschwierigkeiten anfangs durch erhöhte Aufmerksamkeit und Höranstrengung kompensiert werden. Dies führt jedoch häufig zu einer schnelleren Ermüdung während sozialer Interaktionen und zu einer größeren Anstrengung beim Zuhören, was in der Folge zu reduzierten sozialen Interaktionen oder sogar zu sozialem Rückzug führen kann. Betroffene passen ihr soziales Verhalten oft unbewusst an, ohne zu realisieren, dass die Hörprobleme ein Auslöser sein könnten.

In jüngster Zeit hat sich die Forschung näher mit den Auswirkungen von Hörverlust befasst und geht davon aus, dass ein unbehandelter Hörverlust eine Triebfeder für den sozialen Rückzug ist. Sozialer Rückzug im Alter kann weitreichende Folgen haben und ist mit einem höheren Risiko für die Verschlechterung kognitiver Funktionen (der geistigen Fitness), für Demenz und mit erhöhter Sterblichkeit verbunden. Es ist inzwischen erwiesen, dass ein Zusammenhang zwischen Hörverlust und einem erhöhten Risiko für den Abbau kognitiver Funktionen besteht, auch wenn der Kausalzusammenhang noch nicht eindeutig geklärt ist. Einer der grundlegenden Faktoren, durch den sich die negativen Auswirkungen eines Hörverlusts erklären lassen, ist die Beeinträchtigung der alltäglichen Kommunikation. Sie beeinträchtigt nicht nur die Hörbarkeit und Klarheit der Sprache, sondern stellt auch eine Herausforderung für die tägliche Kommunikation in sozialen Interaktionen dar.

Benefit-Dimensionen der Hörversorgung

Die aktuelle Forschung befasst sich zunehmend mit den positiven Auswirkungen der Hörversorgung auf die allgemeine Gesundheit. In mehreren Studien wurde zum Beispiel untersucht, wie die Verwendung von Hörgeräten dazu beitragen kann, die kognitive Gesundheit über einen längeren Zeitraum zu erhalten. Zwei dieser Studien waren Längsschnittstudien, die ACHIEVE-Studie in den USA und die ENHANCE-Studie in Australien. Beide Studien zeigten, dass eine Hörversorgung über mehrere Jahre hinweg einen positiven Einfluss auf den Erhalt der kognitiven Funktionen haben kann.

In einer aktuellen Studie wurden anonymisierte Gesundheitsdaten aus Dänemark untersucht. Dabei handelte es sich um eine bevölkerungsbezogene Kohortenstudie, die rückblickend Daten über mehrere Jahre analysierte. Verglichen wurde das Risiko, an Demenz zu erkranken, zwischen Menschen mit gutem Gehör und solchen mit Hörverlust – mit und ohne Hörgeräte. Die Ergebnisse zeigten: Menschen mit Hörverlust und Hörgeräten hatten ein um etwa 6 Prozent höheres Demenzrisiko als Personen mit normalem Gehör. Allerdings senkten Hörgeräte das Risiko deutlich. Wer keine Hörgeräte trug, hatte ein um etwa 20 Prozent erhöhtes Risiko. Wichtig ist jedoch, dass solche Zahlen nur statistische Durchschnittswerte sind und nicht direkt auf Einzelpersonen anwendbar sind, da individuelle Risikofaktoren eine Rolle spielen. Zusammenfassend unterstützen die Studien die Annahme, dass unbehandelter Hörverlust das Demenzrisiko erhöhen kann und dass Hörgeräte helfen können, dieses Risiko zu reduzieren.

Ein weiteres Forschungsthema ist der Einfluss der Hörversorgung auf die soziale Interaktion und soziale Teilhabe von Menschen mit Hörverlust. Die eben zitierte ACHIEVE-Studie hat mehrere Auswertungen zu diesem Thema integriert, welche kürzlich auf internationalen Konferenzen vorgestellt wurden. Es konnte gezeigt werden, dass die Teilnehmenden mit einer Hörversorgung im Vergleich zu denen mit unbehandeltem Hörverlust offenbar mehr und vielfältigere soziale Kontakte hatten. Darüber hinaus wurde in weiteren Analysen untersucht, ob eine definierte Hörversorgung nachhaltige Auswirkungen auf die Verbesserung der kommunikativen Funktion hat.

Die Gruppe mit einer Hörversorgung hatte im Vergleich zur Kontrollgruppe ohne Hörgeräte einen stark positiven Effekt auf die selbst wahrgenommene Kommunikation. Dieser Effekt wurde bereits sechs Monate nach der Hörversorgung beobachtet und war bis zum Ende der Studie (drei Jahre nach der Hörversorgung) stabil. In einer anderen Studie wurde untersucht, ob die Hörversorgung einen Einfluss auf die Müdigkeit und die soziale Teilhabe am täglichen Leben hat. Die Autor*innen stellten fest, dass sich die Hörversorgung positiv auswirkte und zu einer geringeren Müdigkeit und einer stärkeren sozialen Aktivität im alltäglichen Leben beitrug. Aus diesen zusammengefassten Studienergebnissen können wir schlussfolgern, dass gutes Hören einen starken Einfluss auf das soziale und emotionale Wohlbefinden und die Lebensqualität hat.

Wohlbefinden, Lebensqualität und gesundes Altern

In Übereinstimmung mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) besteht unser Ansatz in der Hörversorgung darin, das Bewusstsein dafür zu schärfen, wie wichtig es ist, sich um die allgemeine Gesundheit, einschließlich der Hörgesundheit, zu kümmern. Gutes Hören ist über die gesamte Lebensspanne hinweg wichtig, insbesondere für das gesunde Altern.

Derzeit wird ein Bewusstseinswandel in Bezug auf die Bedeutung von Gesundheit und Lebensqualität beobachtet. Viele Menschen legen mehr Wert darauf, gesund zu altern. Gesundes Altern ist ein sehr individuelles Konzept und kann für verschiedene Menschen mit zunehmendem Alter unterschiedliche Dinge bedeuten. Man möchte mobil bleiben, die Fähigkeit behalten, eigenständige Entscheidungen zu treffen und so lange wie möglich unabhängig zu leben. Unsere Sinne, insbesondere das Hören, spielen dabei eine sehr wichtige Rolle.

Die Forschung hat gezeigt, dass die Hörgesundheit, definiert als die Fähigkeit, Geräusche effektiv zu verarbeiten und ohne Barrieren oder Einschränkungen an den täglichen Höraktivitäten teilzunehmen, in vielerlei Hinsicht mit emotionalem, sozialem, psychologischem und körperlichem Wohlbefinden sowie dem allgemeinen Wohlbefinden zusammenhängt. Der Begriff Wohlbefinden ist hier ein recht weit gefasster Begriff, der unter anderem auch die bewusste Entscheidung einbezieht, aktiv die Gesundheit und Lebensqualität zu fördern.

Hörgesundheit ist in diesem Zusammenhang also mehr als nur die Hörfähigkeit (das heißt gemessen durch das Audiogramm). Hörgesundheit umfasst komplexere Aspekte des Hörens, wie die Fähigkeit, Klänge effektiv zu verarbeiten, und ermöglicht es dem Einzelnen, an einer Vielzahl gewünschter täglicher Höraktivitäten uneingeschränkt teilzunehmen. Dabei geht es um das Verstehen von Sprache, das Erkennen von Emotionen, das Hören und Wahrnehmen der Umgebung sowie das Genießen von Musik und anderen Klängen.

Wohin geht die Reise in der Zukunft?

Das aktuelle Zeitalter der Digitalisierung hat die Hörgerätetechnologie weitestgehend verändert und neue Möglichkeiten eröffnet, Menschen mit Hörverlust zu versorgen. Aufgrund der drahtlosen Anbindung können Hörgeräte immer online und digital vernetzt sein. Das kann unter anderem Türen öffnen für neue Services, wie zum Beispiel Transkription, Übersetzung des Gehörten, aber auch die Ausweitung des Remote Support. Mit den Entwicklungen der Technologie könnte das Hörgerät zukünftig vermehrt in die Richtung eines „persönlichen Kommunikationsassistenten“ rücken oder gar so etwas wie eine „Messbox“ für Vitalparameter wie zum Beispiel Herzrate, Temperatur oder sogar Hinströme darstellen. Neue Ansätze, die zum Beispiel künstliche Intelligenz (KI) nutzen, finden auch ihren Weg in die Hörforschung und Hörversorgung. Viele Hersteller setzen bereits auf Algorithmen unterstützt durch KI, um die Hörgeräte noch intelligenter zu machen und nahtloser in den Alltag der Schwerhörigen zu integrieren. Neben der automatischen Klassifizierung von Hörsituationen im Alltag und der Anpassung von entsprechenden Hörgeräteeinstellungen wird die KI auch dafür genutzt, das Sprachverstehen zu verbessern. Viele weitere Einsatzgebiete für KI im Rahmen der Hörversorgung sind hier denkbar. Hörgeräte haben somit nicht nur das Potenzial für bessere Hörbarkeit, sondern bieten auch eine technische Grundlage, um die Vernetzung und Kommunikation zu bündeln.

Was bedeutet das für die Rolle der Hörakustiker*innen in der Zukunft?

Allem vorweg: Die Rolle der Hörakustiker*innen ist entscheidend! Sie müssen die individuellen Bedürfnisse der Kund*innen erkennen und die Technik so auswählen und anpassen, dass sie genau das bietet, was die Patient*innen brauchen. Das bedeutet Beratung, Feinjustierung und auch viel Geduld.

Grundsätzlich betreuen Hörakustiker*innen ihre Kund*innen für die Hörversorgung in regelmäßigen Terminen über eine längere Zeit. Die Termine sind häufig länger als typische Arzttermine und es bietet sich die Gelegenheit, die Schwerhörigkeit betreffend detailliert Alltagserfahrungen und -aktivitäten zu erfassen. Nicht selten entwickeln sich langjährige Vertrauensverhältnisse. Der Berufsstand kann daher eine Schlüsselposition einnehmen, wenn es darum geht, individuelle Schwierigkeiten zu erkennen und zu adressieren.

Wir sehen die größte Aufgabe der Hörakustiker*innen darin, die Menschen mit Hörverlust dahin zu bringen, sich für eine Hörversorgung zu entscheiden. Hierfür ist es notwendig, dass nicht nur das Hörvermögen, sondern auch das kognitive, soziale und emotionale Wohlbefinden der Kund*innen berücksichtigt wird. Es geht dabei nicht um Diagnosestellung, zum Beispiel zum Vorliegen einer demenziellen Erkrankung, oder um die Übernahme von Tätigkeiten anderer Fachbereiche, sondern um die audiologische Versorgung, die zeitgemäß und den Erwartungen entsprechend Kund*innen ganzheitlich und personalisiert betreut.

In der Hörakustik sollten wir uns auf ein frühzeitiges Eingreifen und die Prävention konzentrieren, um eine ganzheitliche Hörversorgung zu fördern. Um ein besseres Verständnis und eine Umsetzung in der Praxis zu erreichen, müssen wir die Bedeutung der Hörgesundheit und ihre Rolle bei der Verbesserung des allgemeinen Wohlbefindens und der Lebensqualität neu betrachten und diskutieren. Die bewährte klinische Praxis beinhaltet heute einen patientenzentrierten Ansatz, der wichtige Bezugspersonen einbezieht und das körperliche, emotionale und soziale Wohlbefinden berücksichtigt. Darüber hinaus brauchen wir Modelle für die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Hörakustiker*innen, HNO-Ärzt*innen und anderen Gesundheitsdienstleistern. Im Hinblick auf gesundes Altern besteht der Fokus darauf, die Menschen über die Vorteile der Hörvorsorge zu informieren und bei Bedenken oder auffälligen Veränderungen, zum Beispiel bei den kognitiven Fähigkeiten, eine Untersuchung durch Spezialist*innen zu empfehlen.

Es ist wichtig, die Zusammenhänge zwischen Hörverlust und anderen Gesundheitsthemen wie sozialem Rückzug oder kognitiven Funktionen klar und verständlich darzustellen und gleichzeitig sachlich korrekt zu bleiben. Hörlösungen sind kein Wunderheilmittel bei Demenz und werden es auch nie sein – es wird jedoch empfohlen, positive Botschaften zu verwenden, um den Nutzen hervorzuheben und Menschen mit Hörverlust zu motivieren, Maßnahmen zu ergreifen, um ihre allgemeine Lebensqualität zu verbessern. Wir können uns auf die Beziehung zwischen der Gesundheit des Gehörs und der Gesundheit des Gehirns konzentrieren und darauf, wie Hörgeräte ein sozial aktives Leben erleichtern und Wohlbefinden sowie ein gesundes Leben ermöglichen können. Kürzlich veröffentlichte Arbeiten bieten erste Orientierungshilfen, wie die Darstellung in der klinischen Praxis einbezogen werden kann, um die Hörversorgung in den Kontext eines gesunden Lebens und Alterns zu bringen: Einbinden der Aspekte der a) kognitiven Gesundheit, b) sozio-emotionalen Gesundheit oder c) körperlichen Gesundheit.

Wir sind der Meinung, dass diese Veränderungen und die Einbettung der Hörgesundheit in einen größeren gesundheitlichen Kontext, auch wenn sie Anpassungen unserer Abläufe erfordern, eine enorme Chance darstellen, die Menschen zu motivieren, sich früher um eine Hörversorgung zu bemühen, was das generelle Wohlbefinden und die Lebensqualität langfristig verbessern kann.