Harald und Christopher Bonsel im Gespräch: „Im Grunde reden wir immer über einen Mittelwert“
Vor 15 Jahren kam Harald Bonsel erstmals mit der Perzentilanalyse in Kontakt. Heute verfügt nahezu jedes Messinstrument über das Mess-Tool. Doch warum wird die Perzentilanalyse immer noch so selten angewendet? Ein Gespräch mit Harald und Christopher Bonsel.
Herr Bonsel, noch einmal kurz für alle zum Einstieg: Was ist unter einer Perzentilanalyse zu verstehen und wofür ist sie gut?
Harald Bonsel: Die Perzentilanalyse stellt ein Verfahren dar, mit dem man ein Signal statistisch auswerten kann. Das ist der Unterschied zu konventionellen Verfahren. Aufgrund dieser statistischen Auswertung habe ich den Vorteil, mehr Informationen als mit konventionellen Verfahren zu erhalten. Hinzu kommt, dass in eine Perzentilanalyse beliebige Signale reingesteckt werden können. In der Vergangenheit war es so, dass mit komplexen Signalen, wie zum Beispiel Sprache, Hörsysteme nicht gemessen werden konnten. Deshalb könnte man auch sagen: Der Vorteil einer Perzentilanalyse besteht darin, dass ich das Hörgerät im Tragezustand, also in der Kundeneinstellung, belassen und dabei jedes beliebige Signal reinschicken kann. Entsprechend erhalte ich als Ergebnis eine gute Auswertung des Messsignals, dass ich in Bezug zur Schwerhörigkeit bringen kann.
Jetzt haben Sie gerade die Vergangenheit angesprochen. Ist es nicht so, dass die Perzentilanalyse Geburtstag feiert?
Harald Bonsel: Das kommt ungefähr hin. Mit Vergangenheit meine ich die Zeit um 2004/05, bevor die Perzentilanalyse eingeführt wurde und wir begannen, uns mit dem Thema auseinanderzusetzen. Zuvor war das so, dass man ein Spektrum aufgenommen und daraus einen Mittelwert aus mehreren Messungen gebildet hat. Das ist natürlich kritisch, weil ich auf diese Weise fluktuierende Signale nicht adäquat erfassen kann.
Kann man sagen, dass die Perzentilanalyse einen Standard auf dem Markt darstellt?
Harald Bonsel: Ja und nein. Ja in dem Sinne, dass sie sich als Verfahren etabliert hat, das weltweit wahrgenommen und angewendet wird. Nicht umsonst ist die Perzentilanalyse auch in die 118-15 Norm gemündet. Aber, und daraus besteht das Nein, siewird eben nur teilweise angewendet. Auch in Deutschland. Ich kann zwar mit der Perzentilanalyse extrem gut den Schalldruckpegel messen und sehen, wie viel Pegel im Ohr ankommt. Aber man erhält letztlich keine verlässliche Aussage darüber, was tatsächlich im Gehirn ankommt. Dazwischen ist eine Lücke. Das letzte Stück der Messstrecke fehlt quasi. Dennoch hilft die Perzentilanalyse ungemein, da man ja normalerweise mit einem Zielwert wie NAL oder DSL arbeitet. Diesen Zielwert kann man über eine Perzentilanalyse besser und genauer treffen und zusätzlich als Messsignal Sprache nutzen. Ein erster und ganz wertvoller, wichtiger Schritt.
Christopher Bonsel: Kurz gesagt: Die Perzentilanalyse ist super geeignet, um die Hörsystemeinstellung zu überprüfen und zu schauen, wie die Signalverarbeitung des Hörsystems Signale verändert – aber alles, was danach kommt, fehlt. Das ist das, was hinter dem Trommelfell passiert und was im Gehirn ankommt. Das ist durch eine Perzentilanalyse nicht festzustellen. Die hört am Trommelfell auf. Die Perzentilanalyse trifft nur eine Aussage darüber, wie das Hörsystem eingestellt ist.
Inwieweit ist die Perzentilanalyse als Steigerung der In-Situ-Messung zu sehen?
Harald Bonsel: Sie sprechen da einen Punkt an, der in diesem Zusammenhang wichtig ist. Da man die Perzentilanalyse in aller Regel In-Situ durchführt, fließen sämtliche Vorteile der In-Situ mit ein. Auch der gesamte Bereich, der mit der Ohrankopplung zu tun hat. Welche Wirkung hat meine Bohrung? Wie bekomme ich Schalldruckpegel korrekt ins Ohr, und zwar so, wie ich es auch haben will? Bei welchen Frequenzen wirken sich Änderungen der Verstärkung tatsächlich aus? Man kann aber dadurch auch Signale, die durch eine offene Otoplastik einfließen, messen. Das gilt ebenso für Okklusion und viele andere Effekte, die mir bei der Einstellung eines Hörsystems helfen. Eine In-Situ-Messung ist die Grundlage.
Wie verbreitet ist die Perzentilanalyse ihrer Meinung nach?
Harald Bonsel: Ich denke, dass der Anwendungsgrad bei etwa 30 Prozent liegt. Es gibt halt immer noch In-Situ-Muffel.
Nicht mehr?
Harald Bonsel: Auch wenn die Tendenz nach oben geht, werden es nicht deutlich mehr sein. Was wir aber sehen, ist, dass sich Hörakustiker zunehmend Gedanken machen. Das liegt meines Erachtens ein Stück weit daran, dass der Markt mehr unter Druck gerät. Der ganz leichte Weg funktioniert halt heute nicht mehr so gut. Und der besteht üblicherweise darin, es bei einem First-Fit zu belassen…
… (unterbricht) die meist nach DSL und NAL vorgehen. Welcher Unterschied steckt eigentlich zwischen diesen beiden Verfahren?
Harald Bonsel: Zielkurven sind stets statistische Tools. Doch man kann unterschiedliche Philosophien fahren. Bei der NAL-Formel wird der Parameter Komfort höher gewichtet, bei DSL hingegen setzt man den Fokus mehr auf die Optimierung des Sprachverständnisses. Ihre Anwendung hängt ein wenig mit der Zufriedenheit auf den verschiedenen Märkten zusammen. In Deutschland ist es eben die übliche Praxis, dass ein Großteil der Akustiker nach dem First-Fit eine Feinanpassung vornimmt. Da sind wir in Deutschland zum Glück besser als der Rest der Welt.
Christopher Bonsel: Beide Verfahren sind für den Weltmarkt konzipiert, haben aber den Nachteil, das Individuum nicht exakt abbilden zu können. Sie sind gewiss alles andere als falsch, liefern aber eben nur einen guten Startwert für die Feinanpassung. Wenn man viele Probanden durchmisst und sieht, dass sich bei einer Person dieser Zielwert am besten eignet, letztlich aber alles in einen Topf geworfen und daraus der wahrscheinlich beste Wert ermittelt wird, dann heißt das aber auch immer, dass das einzelne Individuum vom Zielwert abweicht. Es geht hier stets um einen Mittelwert. Die Wahrscheinlichkeit aber, dass man mit einer Anpassformel NAL/DSL eine gute Anpassung macht, ist relativ groß.
Harald Bonsel: Ein Beispiel, das ich den Hörakustikern gerne gebe: Tonaudiogramm und Null-dB-Linie kennt jeder. Wie viele Tonaudiogramme hast du als Akustiker in deinem Leben schon gemessen, bei denen ein Normalhörender mit allen tonaudiometrischen Werten genau auf 0 dB lag? Da geht nie eine Hand hoch, weil das noch nie jemand erlebt hat. Somit könnte ich provokativ zurückfragen: Ist die 0 dB-Linie dann falsch? Ein statistischer Mittelwert bedeutet streng genommen also, dass sich ein Individuum irgendwo um einen Wert herum bewegt. Er wird selten genau darauf liegen.
Eine subjektive Feineinstellung wird also immer vonnöten sein?
Christopher Bonsel: Natürlich. Dennoch machen NAL/DSL-Anpassformeln Sinn. Man muss das eben weltweit betrachten. Deutschland ist hier sicherlich in einer besonderen Situation. Hier spielen, im Gegensatz zu den USA oder anderen Ländern, Feinanpassungen eine sehr große Rolle. Andernorts werden Hörgeräte angepasst, indem Sie aus der Packung genommen, über NAL auf einen Hörverlust eingestellt und dann dem Kunden mitgegeben werden. Da werden also keine individuellen Einstellungen vorgenommen. Deswegen ist die Herangehensweise von den Anpassformeln der Hersteller durchaus richtig. Sie sagen, sie wollen eine Formel, die so gut wie möglich passt.
Welche Vorteile bringen Funktionen wie etwa die der Hörfelddiagnose?
Christopher Bonsel: Die Hörfelddiagnose bzw. die Lautheitsskalierung ist bei uns ein Eingabeparameter in die Perzentilanalyse. Den Perzentilwert, den wir aus der Lautheitsskalierung heraus generieren, unterscheidet sich gegenüber NAL und DSL, da wir vor der Hörsystem-Anpassung den Schwerhörigen über das Hörfeld fragen, wie das Hörempfinden ist. Die Ergebnisse aus der Hörfelddiagnose benutzen wir dann in der Perzentilanalyse, um noch genauer den Zielwert zu generieren und den dann anschließend einzustellen.
Harald Bonsel: Wenn ich also im Vorfeld die Hörfelddiagnose ohne Hörsystem verwende und dann Hörsysteme aus der Hörfelddiagnose heraus exakt auf das erzeugte Ziel einstelle, dann erreiche ich einen sogenannten Lautheitsausgleich. Je nachdem wie gut ich das mache und für welche Eingangspegel, hört der Kunde dann genauso laut wie ein Normalhörender.
Nicht nur Acousticon bietet Messgeräte, die Perzentilanalyse anwenden. Wodurch unterscheiden Sie sich mit der „ACAM“ von anderen Messtechnik-Herstellern?
Harald Bonsel: Das Messverfahren an sich ist ja normiert bzw. standardisiert. Das bedeutet, dass die reine Messung überall auf gleiche Weise vorgenommen wird und es dort keine Unterschiede gibt. Schließlich muss ich ja die Norm erfüllen. Es bestehen kleinere Unterschiede in der Darstellung und in der Messgenauigkeit. Die entscheidenden Unterscheidungsmerkmale entdecke ich daher an anderen Stellen. Vor allem in Punkten, bei denen ich den Zielwert gewinnen bzw. herausfinden will. Und hier unterscheiden wir uns massiv von anderen Herstellern, weil wir eben nicht den rein statistisch basierten Verfahren wie etwa NAL und DSL folgen, sondern weil wir sagen, dass wir das Ganze ein ganzes Stück individueller machen wollen und individuelle Parameter in den Anpassprozess einführen. Das tun wir, damit wir eben nicht auf Basis des Tondiagramms eine Einstellung des Hörsystems schätzen müssen. Ich verwende hier immer den Begriff schätzen, weil es sich für mich bei NAL und DSL stets um einen Schätzwert handelt. Es handelt sich um eine Vorhersage mit einer entsprechenden Trefferwahrscheinlichkeit von vielleicht 70 Prozent bis 75 Prozent, die mir vorhersagt: Wenn du das System so einstellst, dann wird das Sprachverstehen oder die Akzeptanz gut sein. An der Stelle setzen wir ein, weil wir glauben, dass man damit nicht zufrieden sein kann.
Was bleiben einem Akustiker für Mittel, wenn er diesen Weg nicht geht?
Harald Bonsel: Keine? Die Leute haben mit einer FirstFit-Anpassung zwar ein paar dB mehr Verstärkung am Ohr, aber in schwierigen Hörsituationen versagt die Technik, weil sie trotz der tollen Algorithmen die fehlende Verstärkung nicht wettmachen kann. Wenn der Kunde nach Rechnungserstellung in eine etwas problematischere Situation kommt, wie etwa in Vorträgen bei Störschall, und er stellt ohne Hörsysteme auf einmal fest, dass er besser hört als mit, dann ist hier der Punkt gekommen, wo ich sage, dass ein Akustiker versagt hat. Denn das Hören im Störlärm ist doch meist die alles entscheidende Situation, und das darf mit Hörsystem nicht schlechter sein als ohne. Es sind diese weichgespülten Anpassungen, die wir sehr häufig erleben, die genau das abbilden.
Wenn also mit wenigen Kniffs vielleicht nicht das Optimale erreicht, die Spontanakzeptanz über NAL/DSL aber gut ist, die Zufriedenheit der Hörsystemträger stetig steigt und Preiskämpfe am Markt existieren, umso schwieriger wird es doch, eine qualitative Versorgung darzustellen, oder?
Harald Bonsel: Das ist ja das, was dem Hörakustiker als Unternehmer durch den Kopf geht: seine Stellung im Markt zu behaupten. Auf Dauer mit NAL/DSL-Standardprocedere zu operieren, bedeutet meiner Meinung nach, ziemlich stark an dem Ast zu sägen, auf dem ich sitze. Wenn man sich die selbstanpassenden Systeme anschaut, die mittlerweile existieren, dann erkennt man, dass diese ebenso auf den gleichen NAL- und DSL-Algorithmen basieren. Es spielt dann also auch keine Rolle mehr, ob ich diese Frage stelle oder das Smartphone. Einen solchen Weg kann man auch automatisiert vornehmen. Die Performance schafft ein Hersteller in einem Selffitting-Prozess auch ohne Zutun eines Hörakustikers. Ich bin mir sicher, dass man sich von diesem Qualitätsniveau abheben muss, sonst sieht die Zukunft böse aus.
Weil es dann auch keinen Grund gibt, eine Dienstleistung in Anspruch zu nehmen?
Harald Bonsel: Natürlich gibt es da noch die Beratungsleistung, bei der man ähnlich wie ein wie Versicherungsmakler vorgehen könnte. Aber dann wäre ich nur noch ein Verkäufer.
Christopher Bonsel: Dennoch werden viele Endkunden zu dem Resümee kommen, mit einem Hearable und einem Selffitting zufrieden zu sein.
Worin liegt also die Zukunft von Acousticon selbst?
Harald Bonsel: Wir sind ein Hersteller aus der Mitte der Hörakustikerschaft und sind dieser in besonderem Maße verbunden. Wir wissen also, mit welchen Problemen sich Akustiker tagtäglich auseinandersetzen müssen. Nicht umsonst sind auch viele Ideen aus der „ACAM“ ursprünglich aus Gedankenanreizen unserer Kunden entstanden. Aber wir sehen trotz allem natürlich, dass der dick gefüllte „ACAM“-Werkzeugkoffer alleine nicht die Erfüllung ist. Aus diesem Grund haben wir in der jüngeren Vergangenheit angefangen, prozessorientierter zu denken.
Christopher Bonsel: Für uns als Messtechnik-Hersteller besteht die zukünftige Herausforderung daher darin, dass wir unsere Messtechnik, unser ganzes Auftreten und unsere Kommunikation so gestalten, dass wir noch stärker in Richtung Ausbildung gehen werden, um das Wissen weiterzureichen, dass es hierfür bedarf. Es hilft nicht, nur die Messtechnik zur Verfügung zu stellen. Die Akustiker müssen wissen, wie man diesen benutzt und vor allem, warum man auf diese Schritte nicht verzichten darf. Wir wollen die rechte Hand der Akustiker sein, damit sie ihre Prozesse optimieren können. Die Betreuung unserer Kunden ist daher auch künftig ein zentrales Element unseres Tuns.
Meine Herren, Audio Infos bedankt sich für das Gespräch!