Emotionales Wohlbefinden durch gutes Hören (Teil 2)

Wie eine Hörgeräteversorgung das sozial-emotionale Wohlbefinden steigern kann – und was das für Sie als Hörakustiker*in in der Praxis bedeutet.

Veröffentlicht am 16 Dezember 2020

Emotionales Wohlbefinden durch gutes Hören (Teil 2)

Wir beiPhonak sind überzeugt, dass es an der Zeit für einen neuen Ansatz in der Kundenberatung bei der Hörgeräteversorgung ist – weg vom reinen Fokus darauf, dass jemand Hörgeräte benötigt, damit er wieder besser hört, hin zu einem ganzheitlichen Verständnis dafür, was gutes Hören und eine individuell passende Hörversorgung für Betroffene bedeuten können: die Chance auf ein besseres Wohlbefinden.

Drei Kerndimensionen unseres Wohlbefindens
Ein Hörverlust bedeutet weitaus mehr als eine reine Einschränkung des Hörvermögens. Unser Hörsinn spielt eine zentrale Rolle in vielen Bereichen unseres Alltags: Er ist ein sozialer Sinn, er trägt sowohl zur Orientierung als auch Sicherheit bei und leistet einen Beitrag dazu, dass wir geistig fit bleiben. Wenn man sich dies bewusst macht, wird schnell klar, welche Auswirkungen ein unversorgter Hörverlust auf unser Wohlbefinden haben kann.

In der Fachwelt wird ein möglicher Zusammenhang zwischen Hören und Wohlbefinden schon länger diskutiert – und auch erste Studienergebnisse und Metaanalysen deuten darauf hin. Deshalb haben wir von Phonak unter anderem ein Experten-Panel aus Forschern und Praktikern einberufen, um die aktuelle Studienlage dazu auszuwerten, wie sich eine Hörrehabilitation auf das Wohlbefinden auswirken kann, und erste Empfehlungen für die Hörgeräteversorgung abzuleiten.

Wohlbefinden ist eine sehr individuelle Wahrnehmung, und jeder von uns wird etwas anderes darunter verstehen. Die WHO hat für ein gemeinsames Verständnis drei zentrale Dimensionen von Wohlbefinden definiert: sozial-emotional, kognitiv und physisch. In dieser Folge wollen wir uns genauer mit den sozial-emotionalen Aspekten von Wohlbefinden beschäftigen und die Bedeutung guten Hörens für diesen Bereich näher beleuchten.

Die Bedeutung sozialer Bindungen

Menschen sind soziale Wesen. Zahlreiche Studien belegen, dass gute soziale Bindungen zu einer besseren physischen und psychischen Gesundheit und sogar einer längeren Lebenserwartung beitragen können. So hat eine Langzeitstudie der Harvard Medical School (Midlife Eriksonian Psychosocial Development: Setting the Stage for Late-Life Cognitive and Emotional Health, 2015) ergeben, dass starke soziale Beziehungen im mittleren Lebensalter zu einer verbesserten emotionalen und geistigen Gesundheit im Alter beitragen und das Risiko für eine Depression auf drei bis vier Jahrzehnte hinaus deutlich reduzieren können.
Eine Metastudie (Social relationships and mortality risk: a meta-analytic review, 2010), in deren Rahmen 148 verschiedene Studien mit insgesamt mehr als 300.000 Teilnehmern analysiert wurden, kam zu dem Ergebnis, dass stabile soziale Beziehungen das Sterberisiko um bis zu 50 Prozent reduzieren können – unabhängig von Alter, Geschlecht und ursprünglichem Gesundheitszustand. Interessanterweise spielte dabei die regelmäßige soziale Teilhabe eine deutlich größere Rolle als der Aspekt, ob die Betroffenen allein oder mit Familie in einem Haushalt lebten.

Sozialer Rückzug durch Hörverlust
Hörverlust kann erwiesenermaßen dazu führen, dass das soziale Netzwerk schrumpft. So ergab eine Studie mit mehr als 3.000 Teilnehmern im Alter von 55 bis 80 Jahren (The association of hearing impairment and chronic diseases with psychosocial health status in older age, 2002), dass Menschen mit Hörverlust über ein deutlich kleineres soziales Umfeld verfügen als Menschen im gleichen Alter mit normalem Hörvermögen.

Dies bestätigte auch eine Meta-Analyse (A Data-Driven Synthesis of Research Evidence for Domains of Hearing Loss, as Reported by Adults With Hearing Loss and Their Communication Partners. Trends Hear, 2017), für die 78 wissenschaftliche Beiträge und die Selbst-Reports von mehr als 20.000 Teilnehmern ausgewertet wurden. Unter den Betroffenen berichtet die große Mehrzahl von deutlichen sozialen Auswirkungen ihres eingeschränkten Hörvermögens, wie beispielweise einem zunehmenden Rückzug bis hin zur kompletten sozialen Isolation – nicht selten der Auslöser oder begleitet von einer Depression. Auch die Auswertung der Antworten der parallel befragten Angehörigen bestätigte, dass die Betroffenen weniger gern und weniger häufig ausgehen. Der Grund: Ihnen fallen Unterhaltungen in Gruppen oder lauten Umgebungen wie im Restaurant oder auf Feiern zunehmend schwer, und sie beginnen sich in Gesellschaft unsicher zu fühlen. Hier startet in vielen Fällen die Spirale aus Rückzug und einem sich zunehmend verstärkenden Gefühl von Einsamkeit, das wiederum weiteren Rückzug und eine Depression begünstigen kann.

Chancen einer Hörgeräteversorgung
Wenn man sich diese Auswirkungen von Hörverlust auf das soziale und emotionale Wohlbefinden bewusst macht, stellt sich schnell die Frage, inwiefern eine frühzeitige und individuell abgestimmte Hörversorgung hier gegensteuern – und letztlich zu einem gesünderen, längeren und glücklicheren Leben beitragen – kann.
Auch wenn es bis heute wenige Studien gibt, die sich mit dem objektiven Nutzen von Hörgeräten für das soziale und emotionale Wohlbefinden beschäftigen, bestätigen Hörgeräteträger regelmäßig die subjektiv wahrgenommenen positiven Auswirkungen der Hörversorgung für ihr Sozialleben und die Kommunikation mit ihrem Umfeld. So zeigte die MarkeTrak IX Studie (2014), für die in den USA mehr als 17.000 Hörgeräteträger befragt wurden, dass Menschen mit einem versorgten Hörverlust unter anderem die Interaktion und Gespräche in Gruppen wieder deutlich leichter fällt, sie sich in Gesellschaft deshalb wieder wohler fühlen und sich ihre sozialen Beziehungen dadurch verbessern.

Die Rolle der Familie
Bereits länger nachgewiesen ist, wie wichtig es ist, die Kommunikationspartner bzw. das direkte Umfeld von Betroffenen in die Hörrehabilitation mit einzubeziehen. So haben zahlreiche Studien die Vorteile von Family-Centered Care belegt, einem familienzentrierten Versorgungsansatz, bei dem die Familie bzw. das engere Umfeld aktiv in die Versorgungsentscheidung und -umsetzung eingebunden wird.

Die Bereitschaft, sich mit einer Hörgeräteversorgung auseinanderzusetzen und die Zufriedenheit mit den Hörgeräten steigen beispielsweise mit der wahrgenommenen sozialen Unterstützung durch das direkte Umfeld. Bei leichten Hörverlusten entscheiden sich Betroffene sogar in 96 Prozent der Fälle häufiger für eine Hörlösung, wenn die Familie am Beratungstermin beim Hörakustiker teilnimmt (Family-Centered Adult Audiologic Care: A Phonak Position Statement, 2016).

Ein Grund dafür kann die sogenannte Third-Party Disability sein, also die Beeinträchtigung Dritter durch den Hörverlust – unter anderem durch eine erschwerte Kommunikation oder die Häufung von Missverständnissen. Durch das frühzeitige Einbeziehen des engen Umfelds können Hörakustiker*innen durch gezielte Information zu mehr gegenseitigem Verständnis beitragen und die Bedürfnisse beider Seiten bei der Auswahl der passenden Hörlösung optimal berücksichtigen.

Erkenntnisse für die Praxis
Angesichts der vorhandenen Forschungsergebnisse und weiterer laufender Studien zu den sozial-emotionalen Auswirkungen von Hörverlust und den Chancen einer passenden Hörgeräteversorgung empfiehlt das Experten-Panel die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen zu stärken, um eine ganzheitliche Versorgung von Menschen mit Hörverlust voranzutreiben. So könnte unter anderem eine enge Zusammenarbeit mit Hausärzten dazu beitragen, dass Hörverlust früher erkannt und versorgt werden kann.
Zudem können Sie mit gezielter Aufklärung Ihrer Kunden zu den sozial-emotionalen Auswirkungen eines unversorgten Hörverlusts und durch die frühzeitige Einbindung der Familie in die Versorgungsentscheidung dazu beitragen, dass sich mehr Betroffene für ein Hörgerät entscheiden. Und damit maßgeblich dazu beitragen, dass Betroffene nicht nur einfach besser hören, sondern gemeinsam mit Ihren Kunden die Weichen für langfristig stabile soziale Bindungen und so ein langes, erfülltes und gesundes Leben stellen.

Über Ina Seel:

Ina Seel (geb. 1987) ist im Geschäftsbereich Phonak bei der Sonova Deutschland GmbH in Fellbach-Oeffingen bei Stuttgart tätig. Sie verantwortet die Leitung der Audiologie und ist Expertin in der Kundenbetreuung in allen Belangen rund um Hörlösungen und deren Anpassung.

Die ausgebildete Hörakustikmeisterin verfügt über ein umfassendes Wissen in diesem Bereich, das sie durch langjährige Verkaufs- und Fachgeschäftserfahrung stark erweitert hat. Umfangreiche Leitungsverantwortung für zahlreiche Fachgeschäfte und deren Mitarbeiter runden ihr Profil ab. Die profunden Kenntnisse im Führungs-, Verkaufs- und Kundenmanagement sowie die langjährigen Erfahrungen beim Training von Mitarbeitern und im Bereich des Qualitäts- und Veränderungsmanagements sind ideal für die besonderen Anforderungen dieser Position und zeugen von der hohen Expertise.

Weitere Informationen zu Wohlbefinden durch Gutes Hören finden Sie unter: 

www.phonakpro.de/wohlbefinden