„Meine Schwerhörigkeit prägt meinen gesamten Lebensweg“
Eigentlich wollte Henning Glause Tierarzt werden. Doch auf dem Weg dorthin triggerte ihn seine vergangene und komplizierte Schullaufbahn so sehr, dass er eine Planänderung vornahm und sich seitdem selbst für die Förderung und Integration von Menschen mit Handicap einsetzt.
Audio Infos (AI): Herr Glause, Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes seit Ihrer Geburt schwerhörig.
Henning Glause (HG): Ja genau, während der Geburt hat sich die Nabelschnur um meinen Kopf gewickelt und die Haarsinneszellen in meinen Ohren irreparabel geschädigt.
AI: Ist die daraus resultierende Schwerhörigkeit sofort diagnostiziert worden?
HG: Nein, das ist erst im Kleinkindalter geschehen, nachdem sich meine Eltern über einige Verhaltensweisen wunderten. Ich reagierte zum Beispiel nicht auf die Rufe meiner Mutter und brachte ihr eine Gabel, als sie mich nach einem Löffel fragte. Mit circa drei Jahren wurde ich dann mit meinen ersten Hörgeräten versorgt. Ich kann mich noch daran erinnern, dass sie zunächst sehr gewöhnungsbedürftig und unangenehm waren. Aber vor allem musste ich meine ganze Hör- und Sprachentwicklung aufholen, die ja normalerweise in den ersten drei Lebensjahren eines Kindes stattfindet.
AI: Wurden Sie dann speziell gefördert?
HG: Ja, ich ging zunächst in einen Kindergarten und später in eine Grundschule für schwerhörige Kinder. Weil ich dort viel mehr als gedacht mitbekam, wurde ich auf eine Regelschule versetzt und kam danach auf eine Bremer Privatschule, an der genügend finanzielle Mittel für eine „Umrüstung“ vorhanden waren: Extra für mich wurden zum Beispiel schallschluckende Elemente in den Klassenraum eingebaut und ich bekam eine Mikroport-Anlage, mit der ich die Lehrer gut verstehen konnte. Das hat im Großen und Ganzen auch wunderbar geklappt, zumindest bis zur Pubertät. Da wurde ich zum klassischen Außenseiter, weil ich aufgrund meiner Schwerhörigkeit eben anders war. Damit konnten nicht alle umgehen. Ab der zehnten Klasse besuchte ich dann ein Gymnasium in Hamburg, das über einen speziellen Schwerhörigen-Zweig verfügte. Mit kleinen Klassen und Höranlagen an jedem Tisch. Das war für mich damals auch die einzige Möglichkeit, Abitur zu machen. Weil es im Stadtstaat Bremen für Schwerhörige keinerlei Möglichkeiten gab, die Oberstufe zu besuchen.
AI: Nach dem Abitur setzten Sie sich dann selbst für die Förderung und Integration von schwerhörigen Menschen ein und arbeiten derzeit als Lehrkraft an einer Förderschule in Potsdam. War dieser Weg eine Art Berufung oder haben Sie sich ein Engagement in einem hörgesunden Umfeld nicht zugetraut?
HG: Nein, der Weg dorthin führte über Umwege. Ich wollte ursprünglich Tierarzt werden und habe auch eine Ausbildung zum biologisch-technischen Assistenten gemacht. Mit der Zeit fühlte ich mich jedoch viel mehr von den Geisteswissenschaften angezogen. Und mich hat es im Nachhinein auch wirklich gewurmt, dass Schwerhörige in großen Teilen Deutschlands gar nicht die Möglichkeit bekommen, ihr Abitur zu machen – so war es jedenfalls zu meiner Schulzeit. Warum sollten Kinder mit einer Hörbeeinträchtigung ab einem gewissen Alter nicht mehr intellektuell gefördert werden? Diese frustrierenden Umstände haben mich jedenfalls dazu bewegt, Erziehungswissenschaften zu studieren.
AI: Apropos, das Thema Inklusion wird seit einiger Zeit immer präsenter, aber der gesellschaftliche Einbezug von schwerhörigen Menschen wird, zumindest in meiner Wahrnehmung, relativ wenig in der Öffentlichkeit thematisiert. Teilen Sie diesen Eindruck?
HG: Ich kriege zu wenig mit, um diese Frage objektiv beantworten zu können. In meinem Berufsalltag habe ich natürlich mit schwerhörigen Kindern zu tun. Die meisten von ihnen haben jedoch noch so viele andere Behinderungen, dass ihre Schwerhörigkeit praktisch in den Hintergrund tritt. Aber ganz generell betrachtet ist es natürlich ein Handicap, dass Schwerhörigkeit eine unsichtbare Behinderung ist. Ich bekomme ja auch immer wieder wortwörtlich zu hören, dass man mir meine Schwerhörigkeit „ja gar nicht ansehen würde“.
AI: Wie beurteilen Sie eigentlich Ihre persönliche Hörversorgung?
HG: Ich denke, dass bei mir auf technischer Ebene alles richtig gemacht wurde. Aber ich bin mir auch absolut darüber in Klaren, dass dieser Umstand mit viel Geld zusammenhängt. Bei meinem Schwerhörigkeitsgrad und meiner Leidenschaft für Musik, die ich auch zur Eigentherapie nutze, wäre ich mit Kassengeräten höchstwahrscheinlich weitaus weniger gut versorgt. Und bei der Finanzierung hatte ich bisher immer sehr viel Glück: Bevor ich mein Studium abschloss, unterstüzten mich meine Eltern finanziell. Während ich in Österreich gelebt habe, bekam ich dank eines guten Netzwerks und meines Jobs in der Erwachsenbildung so viele staatliche Zuschüsse, dass ich zu meinen hochpreisigen ReSound-Geräten keine Eigenzuzahlung leisten musste. Meine aktuellen Hörgeräte, die ich hier in Berlin bekam, habe ich zu grossen Teilen mit dem Geld finanziert, das ich von meiner Großmutter geerbt habe.
AI: Das heißt, eine gefühlt optimale Hörversorgung könnten Sie sich ohne finanzielle Unterstützung nicht leisten?
HG: Sie wäre jedenfalls mit meinem aktuellen Lehrergehalt schwieriger. Beziehungsweise nur durch die Aufnahme von Krediten möglich.
AI: Welche Hörsysteme tragen Sie aktuell?
HG: Geräte von Phonak. Wenn Sie das genaue Model wissen möchten, müsste ich jetzt nachschauen.
AI: Sie haben also kein spezielles „Markenbewusstsein“?
HG: Nein, ich wähle immer die Geräte aus, die sich für mich am besten anhören. Der Herstellername spielt dabei überhaupt keine Rolle.
AI: Was gefällt Ihnen denn bei Ihren aktuellen Phonak-Geräten, abgesehen von der passenden Hörqualität, besonders gut?
HG: Definitiv die Konnektivität, also dass ich direkt über Bluetooth telefonieren oder Musik hören kann.
AI: Haben Sie eigentlich auch schon mal Hörimplantate in Erwägung gezogen?
HG: Natürlich habe ich mich damit beschäftigt, und wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt, habe ich auch keine Wahl mehr. Aber bisher ist meine Hörkurve zum Glück sehr konstant. Also hoffe ich sehr, dass mir Hörimplantate so lange wie möglich oder vielleicht auch mein ganzes Leben lang erspart bleiben.
AI: Was genau macht Ihnen Angst?
HG: Dass der eigentliche, mittlere Gehörgang für immer stillgelegt wird und das Hören nach der Operation praktisch noch einmal ganz neu erlernt werden muss. Und die temporäre Arbeitsunfähigkeit. Es ist unvorstellbar für mich, drei oder vielleicht sechs Monate nicht unterrichten zu können. Dazu kommt die ganz subjektive Angst, Musik womöglich ganz anders zu hören, als ich sie heute wahrnehme.
AI: Meine letzte Frage ist ein Art Spinnerei: Stellen Sie sich vor, dass Ihre Schwerhörigkeit für immer weggezaubert werden könnte. Würden Sie diese Option ziehen, um als hörgesunder Mensch weiterzuleben?
HG (lacht): Das ist eine interessante Frage (überlegt). Meine Schwerhörigkeit ist ja seit meiner Geburt ein großer Teil von mir und hat meinen gesamten Lebensweg geprägt. Sie hat mich definitiv zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Als Hörgesunder müsste ich also, mit 45 Jahren, vieles noch mal von ganz vorne anfangen. Vielleicht wäre es mir aber schlichtweg auch schon zu anstrengend, auf einmal und immer alles zu hören. Aber es wäre auf jeden Fall eine total spannende Erfahrung, ohne Hilfsmittel ganz normal hören zu können. Wie sich das anfühlt, würde ich zu gerne und zumindest kurzzeitig mal ausprobieren wollen.